Eine Filmkritik von Falk Straub
Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?
Als Alexandre Aja an den internationalen Kinokassen reüssierte, war er 25 Jahre jung. In seinem Horrorschocker Haute Tension (2003) war der Name Programm, und der Film war so brutal und kompromisslos, dass er gemeinsam mit anderen in Frankreich entstandenen Genrestreifen im englischen Sprachraum den Begriff der „New French Extremity“ prägte. Für Aja folgte der Sprung über den Großen Teich. Hollywood lockte. Für Netflix hat er jetzt erstmals seit seinem Durchbruch wieder auf Französisch gedreht. Inzwischen steht der Regisseur vor seinem 43. Geburtstag und geht nicht annähernd mehr so brutal und kompromisslos zu Werke. Hochspannung garantiert er indessen immer noch.
Ajas neuer Film scheint wie gemacht für unsere Zeit. Während die Situation im Dauerlockdown mitunter klaustrophobische Züge annimmt, flattert durch eines der Fenster zur Welt nun dieses klaustrophobische Sehvergnügen in die Wohnzimmer. Oxygen bedeutet knapp zwei Stunden Anspannung auf engstem Raum – und für die Filmschaffenden einen möglichen Ausweg aus der kreativen Krise, sollte die Corona-Pandemie noch länger andauern und Dreharbeiten erschweren. Denn Hauptdarstellerin Mélanie Laurent braucht in diesem kammerspielartigen Genremix kein physisches Gegenüber. Ihre Präsenz, Ajas inszenatorisches Geschick und ein cleveres Drehbuch genügen.
Oxygen beginnt wie ein Horrorfilm. Unter dem Dröhnen einer Alarmsirene schält sich Laurents Figur bei roter Notbeleuchtung aus einem Kokon. Sie liegt in einer kryogenen Kapsel, an Schläuche angeschlossen und von Displays voller Vitalfunktionen umgeben. An ihren Namen erinnert sie sichnicht. Auch weiß sie weder, wo sie ist, noch weshalb sie sich hier befindet. Gewiss ist nur, dass der Sauerstoffgehalt in der Kapsel rapide sinkt, was dieses Albtraumszenario zu einem veritablen Thriller macht. Die Zeit drängt, ein Ausweg muss her. Mithilfe des Medizinischen Interface zur Lebenserhaltung von Organismen, kurz M.I.L.O. (Originalstimme: Mathieu Amalric) macht sich die Frau ohne Erinnerung auf die Suche nach Antworten. Und das Publikum rätselt mit ihr.
Oxygen ist nicht der erste Film, der seine Spannung daraus bezieht, dass er seine Hauptfigur auf wenigen Quadratmetern einer scheinbar ausweglosen Situation aussetzt. Anfang des neuen Jahrtausends steckte Joel Schumacher Colin Farrell in Nicht auflegen! (2002) in eine Telefonzelle, 2010 war Ryan Reynolds in Rodrigo Cortés Buried lebendig begraben. Drei Jahre später gab es in Steven Knights No Turning Back (2013) für Tom Hardy am Steuer eines Autos vermeintlich kein Zurück, und vor drei Jahren hing das Publikum in Gustav Möllers The Guilty (2018) an Jakob Cedergrens Lippen, der einen Polizisten in einer Notrufzentrale spielte. Filme wie diese bieten die perfekte Bühne, um sich schauspielerisch zu profilieren. Mélanie Laurent nutzt sie bravourös. Die Französin hält nicht nur mühelos mit ihren Vorgängern mit, sondern vor allem das Publikum bei der Stange. Ihre Figur durchläuft im Angesicht ihres nahenden Endes alle Stadien menschlicher Verzweiflung. Und Laurent bringt das so glaubwürdig und mitreißend rüber, dass keine Sekunde Langeweile aufkommt.
Angesichts einer Laufzeit von 100 Minuten hätte das schnell passieren können. Dass Oxygen bis zuletzt nicht die Luft ausgeht, liegt neben der Hauptdarstellerin auch an Ajas Inszenierung, vor allem aber am Skript der Drehbuchnovizin Christie LeBlanc. LeBlanc, die bislang nur an einer Fernsehserie mitschrieb, legt ihre erste Spielfilmhandlung vor. Die steckt nicht nur voller mal mehr, mal weniger überraschender Wendungen, sondern vollbringt auch das Kunststück, dass fast ausnahmslos alle davon auch nach dem Abspann noch einen Sinn ergeben. Und obwohl eine der drängendsten Fragen bereits zur Filmmitte geklärt wird, lässt die Spannung nicht nach. Denn LeBlancs größtes Kunststück ist es, wie genüsslich das Publikum gemeinsam mit der Protagonistin versucht, Geheimnis um Geheimnis zu lüften und dabei ein ums andere Mal den falsch gelegten Fährten auf den Leim geht.
Alexandre Ajas Inszenierung – von Robin Couderts dezent, dafür aber umso effektiver eingesetzter Musik wunderbar unterstützt – greift die in der Handlung angelegten geometrischen Formen auf. Um aus ihrem Labyrinth zu entkommen, benötigt die Protagonistin eine andere Perspektive. Weil sie diese aus der Beschränkung ihrer Kapsel heraus aber nicht einnehmen kann, nähert sie sich der Wahrheit in einem hermeneutischen Zirkel. Wie die Früchte des Ahornbaums, die in den Erinnerungsfetzen der Protagonistin in Autorotation zu Boden gleiten, bewegt sich auch die Kamera häufig spiralförmig und im Kreis und beschreibt am Ende auch die Handlung einen solchen. All das ist bereits in einer kurzen Sequenz angelegt, die der eigentlichen Geschichte und der Einblendung des Filmtitels vorausgeht. Ein wahrhaft rundes Skript.
Wer Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum (1968) gesehen hat oder ein Smartphone mit Spracherkennungssoftware besitzt, weiß, wie enervierend und frustrierend der Umgang mit einer künstlichen Intelligenz sein kann. Vom in seiner Logik gefangenen und dadurch geradewegs bösartigen HAL 9000 aus Kubricks Klassiker ist der im Kern seines Prozessors wohlmeinende M.I.L.O. zwar Lichtjahre entfernt, letztlich tickt aber auch diese KI wie ihre filmischen Vorläufer. Die Lösung liegt in der Fragetechnik. Befriedigende Antworten gibt es erst auf die richtigen Fragen. Am Ende geht es nicht darum, wer die Protagonistin ist, sondern was sie ist.
Die erste Frage, die M.I.L.O. der Protagonistin stellt, ist auch die letzte: „Möchten Sie ein Beruhigungsmittel?“ Das Publikum könnte dringend eins gebrauchen.
Eine Frau erwacht ohne jegliche Erinnerungen in einer Kältekapsel. Während ihr Sauerstoffvorrat schnell knapp wird, muss sie sich irgendwie daran erinnern, wer sie ist, um zu überleben.